Magnus Hirschfeld – ein jüdischer, schwuler Arzt – steht im Mittelpunkt von zwei meiner vier Touren in Berlin. Diese Touren gehen tief in die Gräuel des Nationalsozialismus und das Schicksal von Hirschfeld und seiner Arbeit unter den zerstörerischen Händen der Nazis. Abgesehen davon, dass ich aus einem Land stamme, das von Nazi-Deutschland überfallen wurde, und aus einer Community, die in den Konzentrationslagern systematisch ausgelöscht wurde, fühle ich auch eine Verantwortung, während meiner Touren über den Holocaust aufzuklären. Das ist mein persönlicher Beitrag zum Bekenntnis Deutschlands zu „Nie wieder.“
Dieses Engagement begann sehr früh in meinem Leben. Ich muss etwa 9 oder 10 Jahre alt gewesen sein, als ich meine erste Dokumentation über den Holocaust sah. Auch wenn ich mich nicht genau an mein Alter erinnere, bleibt dieser Moment eine meiner lebendigsten Erinnerungen aus meiner Kindheit. Ich weiß noch genau, wo ich saß, wie ich saß und was ich fühlte, während ich mit meiner Mutter an meiner Seite auf den Bildschirm starrte. Ich war so verwirrt, so überwältigt, und ich verlangte nach Antworten! Ich wollte verstehen, wie das möglich war. Wie konnte es sein, dass Menschen solch eine Grausamkeit verüben – etwas, das weit über alles hinausging, was ich mir vorstellen konnte?
Natürlich konnten mir meine Eltern keine zufriedenstellenden Antworten geben. Niemand konnte das! Bis heute bleibt es eine der meistdiskutierten, aber wenigsten beantwor-teten Fragen der Menschheitsgeschichte. Doch es legte den ersten Grundstein für mein späteres Engagement und meine Entscheidung, Soziologe zu werden. Es führte auch zu meiner tiefsten Angst: dem Mangel an Empathie in der menschlichen Natur. Ich habe viel über die Gründe gelernt, warum Menschen möglicherweise wenig bis keine Empathie haben können. Aber bis heute bleibt es das, was ich am meisten fürchte und am meisten Schwierigkeiten habe, zu verstehen.
Als Teenager begann ich, Hannah Arendt zu lesen. Ihr Konzept der Banalität des Bösen war eine der ersten Ideen, die mir eine Antwort näherbrachten. In der Schule, als mein Geschichtslehrer mein Interesse daran bemerkte, Nazi-Deutschland und den Holocaust zu verstehen, empfahl er mir das Buch Masse und Macht von Elias Canetti, das ich umgehend kaufte. Später begann ich, Soziologie zu studieren und entwickelte ein tiefes Interesse an Sozial- und Persönlichkeitspsychologie. Meine Studien konzentrierten sich unter anderem auf Unterdrückung und Diskriminierung.
Mit 20 Jahren gründete ich die Vegan Society Luxembourg und war bis zu meinem Umzug nach Berlin fünf Jahre später deren Sprecher. Doch im Jahr 2020, als der damalige Präsident der Organisation antisemitische COVID-Verschwörungserzählungen verbreitete, traf ich den schmerz-haften Schritt, mich öffentlich von der Organisation zu distanzieren, die ich selbst mitgegründet hatte. Es war besonders schwierig, weil ich immer wieder erklären musste, warum diese Verschwörungstheorien antisemitisch im Kern waren, obwohl sie jüdische Menschen nicht direkt erwähnten.
Ich war glücklich, als ich nach Berlin zog. Weil ich glaubte, dass Deutschland – im Gegensatz zu vielen anderen Ländern mit grausamen Vergangenheiten (Kolonialismus, Sklaverei, Faschismus, Völkermorde) – viel getan hatte, um für seine Vergangenheit Buße zu tun und das Gedächtnis wach-zuhalten. Kein anderes Land, das mir bekannt ist, hat ein so massives Denkmal für seine Vergangenheit ins politische Herz gepflanzt – wie Deutschland es mit dem Holocaust-Mahnmal und anderen Denkmälern direkt neben dem Deutschen Bundestag getan hat. Selbst wenn es Dinge gab, die ich kritisierte, glaubte ich Deutschland, wenn es sagte „Nie wieder.“
Seit dem 7. Oktober 2023, als die Hamas-Terroristen Israel angriffen und über 1.000 Menschen töteten – die meisten von ihnen jüdisch – bin ich zutiefst erschüttert von den Grausamkeiten. Es hat Monate des Lesens, Zuhörens und schlafloser Nächte gebraucht, um zu verstehen, was geschehen war, was nach den Angriffen passierte und was hier in Deutschland vor sich ging. Antisemitische und antimuslimische Gewalt nimmt zu und viele jüdische und muslimische Menschen fühlen sich in Deutschland zunehmend unsicher.
Ja, ich habe viele Beispiele von Antisemitismus bei Menschen gesehen, die behaupten, sich für Palästina einzusetzen. Antisemitismus ist nach wie vor lebendig in verschiedenen Gruppen: Neonazis, christliche, muslimische, atheistische Menschen, Rechte, Linke, Konservative, Progressive, Verschwörungserzähler*innen und den „normalen Deutschen“. Ich verstehe, dass Antisemitismus, wie jede andere Form von Hass und Intoleranz, etwas ist, das kontinuierlich verlernt werden muss. Deshalb werdet ihr mich nie behaupten hören, nie etwas antisemitisches gesagt oder getan zu haben, oder dass ich das niemals tun werde.
Was ich jedoch auch gesehen habe – und immer wieder sehe – ist, dass Deutsche pro-palästinensische Menschen des Antisemitismus beschuldigen, obwohl diese Behauptung laut meinem und dem Verständnis anderer Forscher*innen und Aktivist*innen von Antisemitismus völlig unwahr ist. Tatsächlich sehe ich viele nicht-jüdische Deutsche, die jüdische Menschen des Antisemitismus beschuldigen. Ich sehe die Nachkommen der Nazis, die nicht nur den Nachkommen der Holocaust-Opfer erklären, was Antisemitismus ist, sondern diese Nachkommen der Holocaust-Opfer auch des Antisemitismus beschuldigen.
Ein Beispiel ist der israelische Filmproduzent Yuval Abraham, der von unzähligen Deutschen – darunter Politiker*innen und Medien – des Antisemitismus beschuldigt wurde, nachdem er sich 2024 auf der Berlinale für Palästina aussprach.
Natürlich kann man jüdische Menschen des Antisemitismus beschuldigen, wenn man einen guten Grund dafür hat. Ich kann sowohl den schwulen Nazi Ernst Röhm als auch die lesbische Vorsitzende der aktuellen Nazi-Partei AfD, Alice Weidel, der Queerfeindlichkeit beschuldigen. Und ich kann das richtig begründen. Aber in den meisten Fällen erfolgt die richtige Begründung nicht, wenn Deutsche jüdische Menschen des Antisemitismus beschuldigen.
Nicht alle dieser Fälle lassen sich auf Deutsche zurückführen, die keinerlei Verständnis von Antisemitismus haben. Einige können auf einen grundlegenden Unterschied in den angewandten Definitionen von Antisemitismus zurückgeführt werden. Deutschland orientiert sich größtenteils an der Definition der Internationalen Holocaust-Gedenkallianz (IHRA) für Antisemitismus. Viele Forscher*innen und Aktivist*innen, mich eingeschlossen, verwenden jedoch die Definition der Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA).
Die IHRA definiert Antisemitismus als „eine bestimmte Wahrnehmung von jüdischen Menschen, die sich als Hass gegenüber jüdischen Menschen äußern kann“. Sie umfasst Erscheinungsformen, die sich gegen jüdische Einzelpersonen, ihr Eigentum, Gemeindeeinrichtungen oder religiöse Einrichtungen richten. Kritiker*innen argumentieren, dass die IHRA-Definition Kritik an Israel mit Antisemitismus gleichsetzt und damit möglicherweise die Meinungsfreiheit und den akademischen Diskurs einschränkt.
Die JDA definiert Antisemitismus als „Diskriminierung, Vorurteile, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Juden als Juden (oder jüdische Institutionen als jüdisch)“. Während die IHRA-Definition Beispiele im Zusammenhang mit Israel enthält, konzentriert sich die JDA auf Verhaltensweisen, die sich direkt gegen jüdische Menschen oder jüdische Institutionen richten. Diese Unterscheidung zielt darauf ab, legitime Kritik an Israel zu schützen, ohne sie mit Antisemitismus zu vermischen.
Leider sehen wir immer mehr Menschen, die sich für Palästina einsetzen und die von Deutschen des Antisemitismus beschuldigt werden – unabhängig davon, ob diese die IHRA-Definition verwenden oder überhaupt eine Definition haben. Dies geschieht selbst dann, wenn ihr Handeln nicht als antisemitisch nach der JDA-Definition (oder in vielen Fällen sogar nach der IHRA-Definition) gelten würde. Während sich die grausamsten, blutigsten, tödlichsten und unvorstellbar schrecklichen Verbrechen gegen die palästinensische Bevölkerung direkt vor unseren Augen abspielen, wird es zunehmend schwieriger, in Deutschland Solidarität mit Palästinenser*innen zu zeigen. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass vier palästinensische Aktivist*innen ohne Verurteilung abgeschoben werden sollen (drei davon sind EU-Bürger*innen) und dass deutsche Politiker*innen den Slogan “From the River to the Sea“ als Aufruf zur Zerstörung Israels interpretieren, während Gerichte wiederholt entschieden haben, dass es sich um eine friedliche Solidaritätsbekundung und den Wunsch nach gleichen Rechten für alle in der Region handelt.
Über diese Schwierigkeit hinaus und jenseits der Leugnung des palästinensischen Leids sehe ich sogar Deutsche, die unschuldige palästinensische Zivilist*innen verspotten, die die Schmerzen, die sie erleiden, verharmlosen oder die Gräueltaten, die ihnen zugefügt werden, rechtfertigen. Und das geht an den Kern meiner Desillusionierung mit Deutschlands Bekenntnis zu „Nie wieder“ seit dem 7. Oktober 2023 und erschüttert das Herz meiner größten Angst: dem Mangel an Empathie in der menschlichen Natur. Als ich mich zu „Nie wieder“ verpflichtete, verpflichtete ich mich zu „Nie wieder für alle!“ Und es schmerzt mich zu sehen, dass das nicht das ist, wofür Deutschland steht.
„Nie wieder“ heißt „nie wieder“.
Für alle.